eine Weihnachtsgeschichte
28. Dezember 2020
Kurz nach Weihnachten und es schneit. Warum das so besonders ist, ist eigentlich nicht ganz klar, aber es ist besonders. Es ist im Tessin. Es schneit auf die Palmen. Es macht Palmen mit Schnee. Tannen mit Schnee – ja das war zu erwarten, doch Palmen mit Schnee? Nein, das ist eher unerwartet. Die Palmen halten ganz still, als ob sie es auch nicht recht begreifen könnten und erst nachspüren müssten, wie das ist: Schnee auf meinen Palmwedeln. Sie wissen nicht so recht umzugehen mit dem Schnee, sehen etwas bedrückt aus, ja geradezu niedergedrückt.
Tannen sind das eher gewohnt. Wenn es schneit, lassen sie einfach ihre Tannenzweige etwas gegen unten fallen. Das wirkt sehr anmutig, ja sogar fast andächtig. Es hat etwas Elegantes. Und gleichzeitig drücken sie damit Demut aus: «Oh Schnee, der du da kommst aus dem Himmel, ich neige mein Haupt vor Dir.» Ja, das tun sie manchmal, manchmal neigen sie sogar ihr Tannenhaupt vor dem Schnee. Der Tannenspitz macht einen Knicks. Das gehört sich so, wenn es schneit. Es drückt Dankbarkeit und Demut aus vor der weissen Pracht.
Die wird dann auch ausgiebig und gebührend bewundert. Die Menschen reisen extra an aus dem Unterland. «So schön, ein verschneiter Tannenwald! Wie im Märchen! Ein Märchenwald!» Sie können sich nicht sattsehen daran, sie gehen spazieren darin. Stellen sich unter eine Tanne, ziehen an einem an einem Ast, lachen und quietschen, wenn sie vom Schnee überpudert werden, benehmen sich wie Kinder und haben ihre helle Freude daran.
Dass geschieht den Palmen nicht. Niemand kommt ihretwegen angereist. Die Menschen sind eher befremdet. Wie wenn es ungehörig wäre, dass eine Palme Schnee trägt. Die Palmen erstarren dann auch eher unter der ungewohnten Last, eine Art Schockstarre. Es kommt niemand vorbei, der an einem Palmwedel zupft. Zu hoch, zu unberechenbar, zu ungewohnt. Der Schnee macht sie weder anmutig noch elegant, sondern eher platt. Wedel drückt auf Wedel. Das sieht bedrückt und traurig aus und ist weit entfernt von tanniger Eleganz.
Damit geschieht ihnen Unrecht, denn eigentlich gebührt ihnen ein heiliger Platz, nämlich derjenige an der Krippe. Denn ja hallo, schon mal Tannen gesehen im «Morgenland»? Im «heiligen Land» – von Israel spricht ja keiner in dem Zusammenhang – stehen in erster Linie Palmen und sicher keine Tannen – mal angenommen, schon rein von den klimatischen Bedingungen her. Vor diesem besagten und besungenen Stall stand also, wenn überhaupt etwas, dann im besten Fall eine Palme und sie trug garantiert keinen Schnee. Nur damit das mal geklärt worden ist.
Krippelein mit Tännlein und Schneelein – so ein Quatsch. Damit sollen aber weder Palme noch Tanne runter gemacht werden, denn eine Tannen-Palmen-Hierarchie wäre völlig unangebracht, sie kennen sich einfach unterschiedlich mit Schnee und Krippen aus. Logisch wäre: Palme an der Krippe, Schnee auf der Tanne, aber nein, da steht die Tanne an der Krippe und es liegt Schnee auf der Palme. Tja, mit Logik hat das dann wohl nichts zu tun.
Womit denn also? - Mit einem Befreiungsschlag vor Zuschreibungen, mit einem Sich-Wehren gegen selbstverständliche Annahmen, mit einem Sich-Auflehnen gegenüber automatischen Assoziationen. Die Palme macht es vor: Wird es ihr zu viel mit der Schneelast, reckt sie den obersten, mittleren und damit jüngsten Palmwedel in die Höhe und befreit ihn vom Schnee. Das sieht dann zwar vollkommen bescheuert aus, nämlich wie ein erhobener Zeigefinger, ist aber doppelt interessant: Erstens zeigt es, dass Palmen sehr wohl mit Schnee umgehen können und sich mit dem fremden Element auseinanderzusetzen wissen und zweitens demonstrieren sie damit Auflehnung: Glaubt nur ja nicht, dass wir uns dem Schnee beugen und glaubt nur ja nicht, dass immer alles ist, wie ihr es gerne hättet! Manchmal ist es einfach anders; anders als man es gerne hätte und anders, als man denkt, dass es ist.
emg, 28.12.20